Krisen als Chance
Krisenzeiten gehören im System der TCM zum Winter bzw. zur Wandlungsphase Wasser. Früher hatte der Winter bedrohliche Aspekte. Es galt die angelegten Vorräte einzuteilen, sich und seine Liebsten vor möglichen Gefahren wie der Kälte oder dem Hunger zu schützen. Man ging sorgsam mit den eigenen Ressourcen um, im Wissen, dass irgendwann der Frühling an die Tür klopft. Und ein guter Winter ist Voraussetzung für einen guten Frühling, wo wieder Neues wachsen und entstehen kann.
Auch heute ziehen wir uns in der Regel in Krisenzeiten wie z.B. persönlichen Schicksalsschlägen oder Krankheiten zurück. Denn Krisen haben einen bedrohlichen Charakter – sie machen uns verständlicherweise grosse Angst. Diese Angst lähmt uns. Sie will gesehen werden. Und es geht hier nicht um die anderen, sondern einzig und allein um sich selbst und seine Gefühle. Denn nur, wenn man ganz genau in sich hineinspürt, wenn man wirklich ehrlich zu sich selbst ist, kann man die eigene Angst und ihr Hintergrund erkennen. Erst jetzt kann durch Annehmen wirkliche Veränderung, kann Transformation geschehen. Doch diese Ehrlichkeit mit sich selbst braucht Mut.
Das Wort Krise setzt sich im Chinesischen aus zwei Schriftzeichen zusammen – das eine bedeutet Gefahr, das andere Gelegenheit. Ich kann mich für das eine oder für das andere entscheiden.
In der Regel ist es einfacher, sich für die Gefahr zu entscheiden. Das sind wir uns nämlich von unseren alltäglichen kleinen und grossen Dramen gewöhnt. Unser Kopf spielt da gerne mit. Kreiert zukünftige Szenerien, von denen wir überhaupt nicht wissen können, ob sie je eintreten. Aber Hauptsache unser Denker ist schön beschäftig mit seinen Geschichten, damit man nicht wirklich hinschauen muss. Die perfekte Ablenkung. Denn die Stille, das Sein mit uns selbst, das ertragen wir kaum.
In der Regel suchen wir dann auch noch einen Schuldigen. Jemand muss ja für diese Gefahr, für dieses Drama, dass sich gerade abspielt, für unsere Angst die Schuld tragen. Auch das ist einfacher – den anderen, den anders Denkenden, den anders Handelnden die Schuld zu geben. Und so dreht sich die Spirale stetig weiter, ohne dass wir einen Ausweg finden. Wir verfallen in den Panik-Modus. Klares und überlegtes Denken und Handeln ist dann nicht mehr möglich. Das nützt niemandem, am wenigsten einem selbst.
Wenn ich mich hingegen für die Gelegenheit entscheide, heisst das nicht, dass ich die Gefahr ignoriere. Doch ich lasse mich nicht von der Angst, von der Gefahr leiten. Sondern ich bleibe ruhig und handle bedacht. Ich nutze die Gunst der Stunde für eine Veränderung. Veränderung bedeutet auch immer Loslassen. Ich muss einen Teil von mir, von meiner bisherigen Identifikation loslassen. Von meinen Mustern, von meinem bisherigen Denken Abschied nehmen. Ich muss bewusst Abschied nehmen, vom wütend sein, vom Verurteilen, vom Recht haben wollen, vom Überzeugen wollen. Dieser Abschied braucht starke Wurzeln, eine starke innere Mitte. Für diese innere Mitte muss ich mich bewusst entscheiden, mit Körper, Geist und Seele.
Veränderung ist bekanntlich die einzige Konstante im Leben. Das zeigt uns auch das Prinzip von Yin und Yang. Alles ist stetig im Wandel, alles bewegt und verändert sich in Zyklen. Dem Tag folgt die Nacht, dem Winter der Frühling. Und deshalb gibt es «kein zurück zur Normalität», kein «so wie es immer war». Das hat es noch nie gegeben. Wird es nie geben.
Was aber immer da ist, das ist unsere Mitte, unser tiefstes Sein. Und genau dort finden wir Halt in einer solch aufwühlenden Zeit. Ich muss mich aber mit Haut und Haar dafür entscheiden, dort sein zu wollen. Und gleichzeitig Abschied nehmen von meinen gewohnten Dramen, von meiner Unruhe, die mich ja so schön ablenken.
Nutzen wir die aktuelle Krisen- bzw. Wasser-Zeit als unser ganz persönliches Lern- und Übungsfeld. Es gibt keine bessere Gelegenheit als JETZT.